Während sich Selbst- und Metareflexivität in der Literatur seit der Antike beobachten lassen, ist weithin anerkannt, dass diese Phänomene seit Beginn des 20. Jahrhunderts eine immer größere Bedeutung in literarischen Werken gewinnen (Hauthal et al. 2007). Die Werke von Franz Kafka, Paul Celan und Elfriede Jelinek bilden hier keine Ausnahme, auch wenn die Forschung dies nicht immer hervorgehoben hat. Die zunehmende Intensität und Explizitheit der Reflexion über die Bedingungen der Möglichkeit von Literatur und die in den Texten formulierten ästhetischen Maximen führen zu einer formalen und funktionalen Vielfalt, die es verdient, systematischer untersucht zu werden. Unter dem Begriff „immanente Poetik“ verstehen wir Konzeptionen von Literatur, die nicht in literaturtheoretischen Schriften, sondern in den literarischen Texten selbst produziert werden. Dieser Begriff bezeichnet also ein literarisches Phänomen, das in einer expliziten oder impliziten Reflexion über die Bedingungen der Möglichkeit von (guter) Literatur und über ihre eigene Künstlichkeit besteht. Im Mittelpunkt des Interesses steht die Art und Weise, wie die Poetiken in der erzählenden Prosa, den Dramen und Gedichten der Autor:innen entwickelt und in den Texten selbst verhandelt werden. Es stellt sich die Frage nach ihrer textimmanenten Bewertung sowie danach, ob sie umgesetzt werden oder als umgesetzt inszeniert werden. Eine Poetik lässt sich meist von bestimmten Figuren her oder aus bestimmten Textabschnitten ableiten, denen andere in einer dynamischen Auseinandersetzung widersprechen können. Die Reflexion der Beziehung der Literatur zu anderen Künsten oder zur Gesellschaft kann sich außerdem als integraler Bestandteil der immanenten Poetik erweisen. Die intertextuelle Bezugnahme auf vorangegangene literarische Texte kann bei der Entstehung und Begründung einer immanenten Poetik eine entscheidende Rolle spielen. Ebenso kann die Betrachtung der produktiven Rezeption der immanenten Poetik, also ihre Übernahme in die Poetik anderer Autor:innen, die Perspektive auf ihre Formen und Funktionen klarer werden lassen.
Als Verfahren zur Reflexion der eigenen Produktion und Konzeption von Literatur nehmen die immanenten Poetiken einen elementaren Platz in den Werken von Kafka, Celan und Jelinek ein. Was Kafkas Werke betrifft, müssen das Phänomen und seine Folgen erst noch weiter erschlossen werden, da die Selbstreferenzialität der Texte lange nicht im Mittelpunkt der Untersuchungen stand. Erst in einer neueren Forschungsrichtung, die sich in den 2000er Jahren durchsetzte und von der kritischen Edition des Werkes und von dekonstruktivistischen Ansätzen profitierte, wurde das Thema des Schreibens zunehmend diskutiert, das mit den immanenten Poetiken in Kafkas Texten in Relation steht (Lehmann 1984, Schütterle 2002, Wenzel 2014, Krings 2018). Verschiedene Studien, nicht zuletzt die von Jean Bollack, haben sich seit den 1990er Jahren damit beschäftigt, die immanente Poetik in Celans Werk zu rekonstruieren. Sie haben diese unterschiedlich als „Poetik des Hermetismus“ (Sparr 1989), „Poetik der Fremdheit“ (Bollack 2000), „Poetik der Erinnerung“ (Lemke 2003) etc. charakterisiert, was eine wesentliche Kontroverse der Celan-Forschung darstellt. Obwohl Jelineks Werke bisher selten dezidiert unter diesem Gesichtspunkt analysiert wurden, trägt ihr von der Forschung hervorgehobener Bezug auf Genderfragen, politische Ereignisse und die Werke anderer Autor:innen zur Identifizierung der immanenten Poetik bei (Tanzer 2001, Ortner 2010, Müller-Dannhausen 2011). Daran anknüpfend lässt sich untersuchen, inwiefern die in Jelineks Texten zunehmend zu beobachtenden Autorschaftsreflexionen einer an die Autorin angelehnten Erzählerin oder Autorinnenfigur sich als Möglichkeit erweisen, die genannten Bezüge des Werks argumentativ zusammenzuführen und (ironisch gebrochen) zu legitimieren.
Darauf aufbauend können zum einen Bezugnahmen in den immanenten Poetiken Celans auf Kafka sowie Jelineks auf Kafka und Celan erörtert werden (Janz 1997/98, Reitani 2003, Lechner 2005, Liebrand 2006, Liska 2006, Erickson 2007, Arteel 2010, Welling 2019). Die spezifische Rolle dieser intertextuellen Bezüge bei der Herausbildung der immanenten Poetiken in den Werken von Kafka, Celan und Jelinek sollte noch weiter untersucht werden. Zum anderen lassen sich die intertextuellen Bezüge ihrer Poetiken sowohl auf vorangegangene Autor:innen als auch ihre Wirkung auf nachfolgende Autor:innen der deutsch- und französischsprachigen Literatur diskutieren.
Wenn immanente Poetiken untersucht werden, geschieht dies oft anhand eines Werkes oder der Produktion einer Autorin oder eines Autors und häufig unter anderen Bezeichnungen wie Poetologie, fiktionale oder implizite Poetik, art poétique sowie Oberbegriffen wie Selbst-, Meta-, Autoreflexivität, Metatextualität, écriture au miroir. Sie werden selten systematisch (Theile 1980, Bessière/Schmeling 2002, Exarhou et al. 2011) und aus einer interdisziplinären Perspektive (Hauthal et al. 2007) analysiert, wie wir es anhand von drei großen erzählerischen, lyrischen und dramatischen Œuvres des 20. und 21. Jahrhunderts vorschlagen. Das Ziel des Workshops ist es, in textnahen Interpretationen die Formen und Funktionen der immanenten Poetiken in jedem der drei zu untersuchenden Œuvres präziser zu charakterisieren. Das betrifft auch ihre Beziehung zueinander, zu ihren Vorbildern und ihrer produktiven Rezeption. Übergreifende Fragen, etwa die nach Gattungsspezifika, können die Einzelstudien ebenfalls leiten. Die deutsch-französische Perspektive zielt darauf ab, terminologische Fragen zur Erfassung des Phänomens zu klären und die Forschungen der beiden Sprachräume zu diesem Thema, die nur selten (Terrisse 2019) aufeinander verweisen, stärker miteinander zu verbinden. Außerdem könnte ein Impuls für die Untersuchung der produktiven Rezeption der drei Œuvres, insbesondere Jelineks, in den beiden Sprachräumen gegeben werden.
Die Beiträge können sich auf einzelne Werke oder ihre intertextuelle Dimension beziehen und beispielsweise aus den Bereichen Germanistik, Romanistik, Komparatistik, Übersetzungswissenschaft und Theaterwissenschaft stammen. Folgende Fragen können dabei behandelt werden:
- Was macht die Elemente der immanenten Poetik innerhalb der untersuchten Texte als solche erkennbar? Wird der ästhetische Wert dieser literarisch-poetischen Aussagen innerhalb der Texte diskutiert, und falls ja, auf welche Weise? Wird die immanente Poetik im Text selbst umgesetzt oder als umgesetzt inszeniert?
- Wie ist die Beziehung zwischen dem Teil und dem Ganzen zu verstehen, das heißt zwischen der immanenten Poetik (oder ihren Elementen) und dem literarischen Text in seiner Gesamtheit oder sogar, im Fall von Textsammlungen, zwischen der immanenten Poetik und der Sammlung (etwa einem Gedichtzyklus) in seiner Gesamtheit? Wie lässt sich das Verhältnis zwischen der immanenten Poetik eines Textes und der in anderen Texten derselben Autorin oder desselben Autors zu identifizierenden immanenten Poetik – oder außerliterarischen Aussagen – bestimmen?
- Finden die Erscheinungsformen und Funktionen der immanenten Poetik bei Kafka eine Nachwirkung bei Celan und/oder Jelinek – oder die von Celan bei Jelinek? Inwiefern werden die immanenten Poetiken der drei Autor:innen aus der Bezugnahme auf die Poetiken anderer Autor:innen konstruiert und sind sie selbst Gegenstand einer Wiederaufnahme in der französisch- oder deutschsprachigen Rezeption?
- Ist die immanente Poetik Teil einer Strategie, die darauf abzielt, die Autorin oder den Autor und ihren/seinen Text im kulturellen oder speziell im literarischen Feld zu positionieren, und falls ja, mit welchen Konsequenzen?
- Welche Möglichkeiten bietet der Bezug auf andere Künste bei der Formulierung und Verhandlung der den literarischen Texten immanenten Poetiken?
- Welche Schwierigkeiten und Herausforderungen ergeben sich bei der Übersetzung des Phänomens in eine andere Sprache, insbesondere wenn die immanente Poetik sehr metaphorisch formuliert ist?
- Wie und zu welchem Zweck setzen sich Adaptionen literarischer Texte, etwa in Theaterinszenierungen, mit der immanenten Poetik auseinander? Liegt hier ein Erkenntnispotenzial für das Textverständnis?
Als Teilnehmer:innen werden in erster Linie (aber nicht ausschließlich) Nachwuchswissenschaftler:innen aus den genannten Disziplinen angesprochen, die an einem fächerübergreifenden Austausch zu immanenten Poetiken in Werken von Kafka, Celan und Jelinek, ihrer Intertextualität sowie ihrer literarisch-produktiven Wirkung interessiert sind. Der Workshop zielt auf eine tiefergehende Vernetzung der deutschen und französischen Nachwuchswissenschaftler:innen und ihrer Forschungen zum Thema Selbstreflexivität in der Literatur und anderen Künsten. Vorgetragen werden kann sowohl auf Deutsch als auch auf Französisch, vorausgesetzt werden Grundkenntnisse in der jeweiligen Fremdsprache. Die von den Referent:innen untersuchten Texte werden den Teilnehmer:innen vor der Veranstaltung (ggf. als Auszug, max. 10 Seiten) als Diskussionsgrundlage zugänglich gemacht. Die Veröffentlichung eines Workshop-Berichts und zumindest einer Auswahl der Beiträge in einer deutsch-französischen Zeitschrift ist in Planung.
Für die Teilnahme mit einem Vortrag (20 Minuten) auf Deutsch oder Französisch bitten wir bis zum 18. August 2024 um die Einsendung eines Abstracts (ca. 2.000 Zeichen, inkl. Leerzeichen) und einer Kurzbiografie an folgende E-Mail-Adresse: poetiquesimmanentes@gmail.com. Eine Rückmeldung erfolgt Ende August. Kosten für Reise und Unterkunft im üblichen Rahmen können übernommen werden.
Die Organisator:innen:
Anton Bröll ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik der Universität Osnabrück und arbeitet an einer Dissertation zur Selbstreflexivität in der Gegenwartsdramatik.
Solange Lucas promoviert im Rahmen einer Cotutelle de thèse an der Universität Nantes (CRINI) und der Universität Osnabrück über Interpretationskonflikte bei Kafkas Kurzerzählungen.
Dr. Matilde Manara hat über ‚denkende Poesie‘ promoviert (Lʼintelligence du poème: poésie et essai chez Valéry, Rilke, Stevens et Montale, Paris: Classiques Garnier 2023). Derzeit arbeitet sie als Postdoktorandin am Institut LETHICA der Universität Straßburg, wo sie zu ästhetischen, ethischen und erkenntnistheoretischen Modellen in Prousts À la recherche du temps perdu forscht.
Wissenschaftlicher Beirat:
Prof. Dr. Yasmin Hoffmann (Université Montpellier 3, littérature de langue allemande contemporaine, traductologie)
Prof. Dr. Olav Krämer (Universität Osnabrück, Neuere deutsche Literaturwissenschaft)
Prof. Dr. Artur Pełka (Universität Łódź, Deutschsprachige Medien und österreichische Kultur)
Prof. Dr. Marielle Silhouette (Université Paris Nanterre, études théâtrales)
Prof. Dr. Werner Wögerbauer (Nantes Université, littératures de langue allemande)
Prof. Dr. Philippe Zard (Université Paris Nanterre, littérature comparée)
Finanziert durch:
CIERA (Centre Interdisciplinaire dʼÉtudes et de Recherche sur lʼAllemagne)
CRINI (Centre de Recherche sur les Identités, les Nations et l'Interculturalité), Nantes Université
ED ALL (École Doctorale Arts Lettres et Langues) Pays de la Loire
Lehrstuhl von Prof. Dr. Olav Krämer, Universität Osnabrück