Musikinstitutionen in Krisenzeiten

Bieten Krisen die Möglichkeit, das Selbstverständliche in Frage zu stellen? Oder führen sie stattdessen zu einem Rückbezug auf vermeintlich „sichere Werte“ – auf Kosten von Originalität, Vielfalt und Kreativität? Die Beschäftigung mit Musikinstitutionen in krisenhaften Zuständen – ob aktuelle oder vergangene, ob räumlich nahe oder ferne – wirft Fragen zu Kreativität, Resilienz und Wandelbarkeit von Institutionen auf und damit auch der Menschen, die sie gestalten und verantworten. So beruhen Institutionen auf einem komplexen Netz unterschiedlicher Beteiligter  (Kulturpolitiker, Kulturmanager, Kuratoren, Künstler, Publikum, etc.) – in diesen Netzen bilden sich gesamtgesellschaftliche Prozesse ab, zugleich geben sie Anstoß zu neuen Dynamiken und Entwicklungen.

Das Kolloquium nimmt die aktuellen Entwicklungen um die Corona-Krise zum Anlass, um solche gesamtgesellschaftlichen Prozesse über den Umgang mit Krisen von Musikinstitutionen und deren Strategien in den Blick zu nehmen. Durch die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie wurden diese von Beginn an in existentieller Weise eingeschränkt bzw. ganz zum Stillstand gezwungen und künstlerisch Tätigen damit vielfach von einem Moment zum anderen die Lebensgrundlage entzogen. „Der Kultursektor ist besonders stark von der Corona-Krise betroffen.“[1] Gleichzeitig ist der Musikbetrieb bzw. die Ermöglichung kreativen Schaffens geradezu traditionell mit Krisendiskursen überformt, innerhalb derer der Begriff „Krise“ hier häufig als Form von „apology, observation and analysis“ (Zalfen 2007) Gebrauch findet.

Während die Konsequenzen der Corona-Krise zunächst alle Musikinstitutionen  gleichermaßen treffen, macht der Blick auf nationale Spezifiken deutlich, wie groß der Einfluss jeweiliger Kulturpolitiken auf Erhalt und Erneuerung von Institutionen ist. So gibt z.B. das in Frankreich gewährte „année blanche“[2] den „intermittents du spectacle“ (nicht dauerhaft Festangestellten im künstlerischen Bereich) andere Auffangmöglichkeiten als dies in Bezug auf die Situation von Künstlern der „Freien Szene“ in Deutschland zu beobachten ist. Was können die „2 Milliarden Euro für die Kultur“ des insgesamt 100 Milliarden Euro schweren Konjunkturprogramms der französischen Regierung decken und was wiederum die eine Milliarde Euro, die das Bundesprogramm „Neustart Kultur“ [3] für den Kultursektor in Deutschland zur Verfügung stellt? Die staatliche Zentralisierung in Frankreich und die föderale Organisation von Kultur in Deutschland statten Musik- und Kulturinstitutionen mit unterschiedlichen Voraussetzungen aus, um der aktuellen Corona-Krise zu begegnen. Diese Feststellungkann Ausgangspunkt sein, um grundsätzlich die Vielfalt krisenhafter Zustände und daraufhin entwickelte Strategien von Musikinstitutionen analytisch und vergleichend in den Blick zu nehmen.

Erzeugt die Corona-Krise spezifische Reaktionen oder werden durch die Krise bereits bestehende – latente oder manifeste – Problematiken verstärkt? Kann die Corona-Krise Ausgangspunkt für die Entstehung neuer Institutionen und signifikanter Transformationen sein? Oder macht sie stattdessen Grenzen von Institutionen sichtbar, deren Grundfesten nicht veränderbar erscheinen? Wie kann die Komplexität institutioneller Netzwerke und den z.T. ganz individuellen Strategien unterschiedlichster Musikinstitutionen gefasst werden, mit denen sie auf neue Formen von Instabilität reagieren?

Eine Analyse von Entscheidungen und Reaktionen auf die Corona-Krise erweist sich als dringend. Sie lädt dazu ein, die Frage des Historikers Yuval Noah Harari ernst zu nehmen:  “Will we travel down the route of disunity, or will we adopt the path of global solidarity? If we choose disunity, this will not only prolong the crisis, but will probably result in even worse catastrophes in the future. If we choose global solidarity, it will be a victory not only against the coronavirus, but against all future epidemics and crises that might assail humankind in the 21st century”.[4]

Schließlich folgt die Corona-Krise einer ganzen Reihe von Krisen, die den politischen und medialen Diskurs der letzten Jahre bestimmt haben: die Eurokrise, die Migrationskrise, die Ökokrise, die Krise der Demokratie usw. Der geradezu inflationäre Gebrauch des Begriffs „Krise“ im politischen und medialen Diskurs läuft dabei Gefahr, diesen selbst zu überdehnen. Gleichzeitig lenkt er den Blick zuvorderst auf Instabilitäten und verdeckt unter Umständen die wachsende Stärke bestehender Strukturen. Denn gerade in Momenten der Instabilität erweisen sich Institutionen als identifizierbare und fassbare Entitäten, deren Aktivitäten und die sie begleitenden Diskurse auf die Sicherung ihres Fortbestands ausgelegt sind.

Die Bedeutung von Kultur für die Gesellschaft ist – insbesondere in Bezug auf ihre öffentliche Finanzierung – Gegenstand fortdauernder Diskussion. In Zeiten wie der aktuellen Corona-Krise verdichten sich diese in existentieller Weise und setzen sich damit in Bezug zu als „essentielles à la nation“ bzw. „systemrelevant“[5] identifizierten Bereichen, deren Erhaltung auch in den Phasen des Lockdowns in Frankreich und Deutschland gewährleistet werden soll. Dabei erinnern die Debatten zugleich an die zugespitzte Frage „Brot oder Kunst?“, die die Polarität und gleichzeitige Bedingtheit von ökonomisch-politisch prekärer Situation und künstlerischen sowie kulturpolitischen Handelns im Deutschland der 1920er Jahre in polemisch zugespitzter Form fasste (Bekker 1932). Mit der Rezession der frühen 1980er Jahre konfrontiert, entschied sich die neu gewählte sozialistische Regierung Frankreichs, das Budget des Kultusministeriums deutlich zu erhöhen, um damit für die durch die Ölkrise geschwächte Wirtschaft neue Impulse zu setzen. Seit 2015 hat Europa massiv in Projekte investiert, die sich künstlerisch mit der Migrationskrise auseinandersetzen (Orpheus XXI, Migrants Music Manifesto, etc.). Hieran ließen sich zahlreiche weitere Beispiele anschließen, deren genauere und vor allem transdisziplinäre Betrachtung gewinnbringend sein kann. Anliegen des Kolloquiums ist es daher, einen Raum für die Analyse und Diskussion unterschiedlichster (räumlich und zeitlich nicht begrenzter) Fallbeispiele zu schaffen, die Standpunkt und Strategien von Musikinstitutionen in Krisenzeiten thematisieren und diese auf ihre Beziehungen und Spezifiken hin befragen.
 
Sehr willkommen sind dabei Beiträge aus einem breiten geistes- und sozialwissenschaftlichen Spektrum (Geschichte, Anthropologie, Musikwissenschaft, Musikethnologie, Politikwissenschaft, Soziologie, Erziehungswissenschaft, Theaterwissenschaft, etc.).
 

Beitragsvorschläge

Beitragsvorschläge können bis spätestens zum 10 März 202 an folgenden Adressen gesendet werden: colloque.musiques.crises.shs@gmail.com.
Bitte ein einziges PDF-Dokument, das die folgenden Elemente enthält senden:
- Nachname, Vorname
- Institutionelle Zugehörigkeit, Funktion (bei Studenten, Angabe des Studienniveaus)
- Wissenschaftliche Kurzbiographie von ca. 100-150 Wörtern in Französisch, Deutsch oder Englisch
- Einen Titel und ein Abstract von ca. 300 Wörtern in Französisch, Deutsch oder Englisch.

Zusagen über angenommene Beiträge werden bis Ende März übermittelt.

Die Beiträge sind für 20 Minuten vorgesehen.

Konferenzsprachen sind Französisch, Deutsch und Englisch. Wir erwarten, dass jeder Teilnehmer eine dieser Sprachen fließend sprechen kann und eine weitere versteht.
 
In Anbetracht der aktuellen Gesundheitssituation kann das Symposium verschoben oder auf andere Weise organisiert werden, um allen die Teilnahme zu ermöglichen. Nichtsdestotrotz hoffen wir immer noch, die Möglichkeit zu haben, dieses Treffen im Mai zu organisieren, und wir hoffen, dass sich Personen, die an diesen Themen interessiert sind, durch Kommunikationsvorschläge gemäß dem aktuellen Kalender melden, was uns die Einrichtung einer Arbeitsgruppe ermöglicht.

Organisation

Julie Oleksiak, EHESS
Christina Kaps, Humboldt-Universität Berlin
Anna Cuomo, Institut ARI, UMR Passages, CNRS

Kontakt

colloque.musiques.crises.shs@gmail.com


[1] frz. Org. in:  « Cette crise va se compter en milliards d'euros. »,  Interview mit Franck Riester (Kulturminister Frankreichs von Oktober 2018 bis Juli 2020) ; Le Monde,  18. April 2020 ; s.a. : Studie zu Auswirkungen der Corona-Krise auf den europäischen Kultursektor: https://www.rebuilding-europe.eu/
[2] Die „intermittance du spectacle“ ermöglicht es im künstlerischen Bereich Tätigen in Zeiten zwischen befristeten Verträgen, Probephasen und Aufführungen (soweit diese einen Umfang von mindestens 507Stunden bzw. 43 „cachets“ erreichen) Arbeitslosengeld in Anspruch zu nehmen. Da sich schon früh abzeichnete, dass durch Absagen aller Veranstaltungen im Frühjahr und Sommer dieser Umfang nicht erreicht werden konnte, wurde der Bindung des Arbeitslosenbezugs an einen zu erreichenden Arbeitsumfang aufgelöst. https://www.pole-emploi.fr/spectacle/covid-19---mesures-exceptionnell/intermittents-du-spectacle--lll.html
[3] Eine weitere Milliarde soll nach einem Beschluss des Deutschen Kulturrates am 3. Februar 2021 hinzukommen.
[4] Yuval Noah Harari, „The world after coronavirus“, Financial Times, 20.3.20
[5 Der Begriff der „Systemrelevanz“ bezieht sich zunächst auf Bereiche wie Medizin, Infrastruktur, soziale Einrichtungen usw. deren besondere Bedeutung für das Funktionieren von Gesellschaft unumstritten ist und welche somit prioritär im Sinne staatlicher Förderung behandelt werden. Künstlerische Interessenvertretungen und Institutionen knüpfen an diesen Diskurse an, um sowohl auf die Bedeutung ihres künstlerischen Handelns wie auch die Besonderheit ihrer Position innerhalb von Gesellschaft dringend aufmerksam zu machen.
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Lieu

Institut ARI (UMR 8131 CNRS-EHESS), Cité des Arts,
3 Avenue Jean Darrigrand, 64100 Bayonne

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