(K)Ein Ende von Europa: Krisen, Konflikte, Lösungsansätze



Thema

In den Jahren 2014-16 wurden einige runde und gleichsam gewichtige Jahrestage in Europa — insbesondere in seiner geographischen Mitte — gefeiert, allen voran: die der
„friedlichen Revolution(en)” von 1989, der deutschen Wiedervereinigung von 1990, des deutsch- polnischen Nachbarschaftsvertrages von 1991, der Gründung des Weimarer Dreiecks von 1991 und der EU-Osterweiterung von 2004. Im Jahr 2017 steht allerdings ein Jubiläum an, dass kaum jemand in der Mitte der europäischen Gesellschaften feiern möchte: zehn Jahre „Krise”. Was als Finanz- und Bankenkrise in den USA begann, schwappte ganz schnell auch nach Europa über und mutierte zur sog. „Eurokrise” (mit all ihren Subspezies: Staatsschuldenkrise, Bankenkrise, Wirtschaftskrise, Migrationskrise, Legitimationskrise), die schließlich in den Dauerzustand einer „Polykrise” mündete. Militärkonflikte und Bürgerkriege in Europas Peripherie sowie Terror in seinen Städten machten die Grenzen von Europa und innerhalb Europas wieder sichtbarer und vor allem diskursfähiger. Das „Brexit”-Referendum versetzte die Fragmentierung und Desintegration der EU aus der Vergangenheit in die Gegenwart.
Wie geht es nun weiter mit der EU und ihrer Nachbarschaft? Der amerikanische Politikwissenschaftler R. Daniel Kelemen zeichnet 5 Zukunftsszenarien für Europa: 1) Zerfall der EU, 2) teilweise Sezession, 3) Atrophie, 4) Stärkung der variablen Geometrien und 5) Bürgerkrieg. Er selbst hält den vierten Weg für den wahrscheinlichsten. Eine durchaus mögliche sechste Option wäre, so Ireneusz Paweł Karolewski, eine neue „Eurosklerose”, d.h. die Verhärtung des Status quo. Aber auch Eurosklerose ist heilbar: Die Stärkung bestehender und Gründung neuer Institutionen oder eine engere Integration z.B. im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) könnten der europäischen Integration einen neuen Schub geben. Ein erstes Licht am Ende des Tunnels der Migrationskrise ist dank der „Bratislava-Roadmap” und des Konzepts der „flexiblen Solidarität” gesichtet worden. Der fortschreitenden Fragmentierung Europas kann wiederum durch multilaterale Partnerschaften und Institutionen, wie dem Weimarer Dreieck, entgegengewirkt werden. Und schließlich hat die Polykrise auch ihre positive Facette, die von einer produktiven Bottom-up-Dynamik geprägt ist. Gemeint ist die Resilienz, also die „Fähigkeit von Gesellschaften, sich auch unter widrigen Bedingungen selbst zu helfen und Soziales zu stabilisieren” (Jochen Roose/Moritz Sommer/Franziska Scholl). Die von Freiwilligen betriebenen Krankenhäuser, Apotheken, Suppenküchen sowie von den Mitarbeitern übernommenen Betriebe bedeuten mehr als nur einen symbolischen Schimmer der Hoffnung.
Die vielen Dimensionen der Krise sowie diesbezügliche Diagnosen, Prognosen, Lösungsansätze und Fragen sollen in drei Schwerpunktthemen gebündelt und in einem interdisziplinären Diskurs wissenschaftlich erkundet werden.


1. Europa in Krisen: politische, wirtschaftliche und soziale Dimensionen

Die Europäische Union wird parallel von mehreren Krisen erschüttert. Die große Rezession (vor allem im Süden Europas), die Staatsfinanzkrise, der Ausstieg Großbritanniens aus der Europäischen Union, die Einwanderung von Flüchtlingen, das Erstarken europafeindlicher Parteien in den meisten EU-Ländern und die Ankündigung von Donald Trump, Europa den Rücken zu kehren, setzen die Europäische Union aktuell nicht nur unter erheblichen Druck, sondern vergrößern und unterstreichen auch die Unterschiede zwischen den Mitgliedsländern. Angesichts dieser komplexen Krisenkonstellation sind Analysen zu künftigen Entwicklungen und Verflechtungen von Krisen nicht gerade einfach. Gleichzeitig erfordert die Situation eine neue Kreativität, dank welcher Selbstverständlichkeiten in Frage gestellt werden können. Dies betrifft den Umgang mit problematischen Politikfeldern, die Frage nach der EU-Vertiefung genauso wie Überlegungen zu einem Leitbild für Europa oder gar zur europäischen Identität.

2. Zwischen Feindbild und Kulturtransfer: das Feld der kulturellen Produktion

Im 19. und 20. Jahrhundert haben Akteure und Infrastrukturen des Literaturbetriebs die „Narrative des Nationalen”, darunter an prominenter Stelle auch ihre trennenden Facetten, maßgeblich geprägt. Die Namen Gustav Freytags, Henryk Sienkiewicz’ oder Maurice Barrès’ stehen beispielhaft hierfür. Aber die Geschichte kennt auch Gegenbeispiele. Dem Kniefall von Warschau ging eine intensive Rezeptionsphase polnischer Literatur in der Bundesrepublik, die sog. polnische Welle, voraus, die von den „Weichenstellern” des deutsch-polnischen Literaturtransfers (wie Karl Dedecius oder Heinrich Kunstmann) in die Wege geleitet wurde. Heute wird der/das „Fremde” u.a. in der und durch die deutschsprachige(n) „interkulturelle(n) Literatur” (Giorgio C. Chiellino) domestiziert. Und in den Reportagen Wolfgang Bauers, Klaus Brinkbäumers, Jarosław Mikołajewskis oder in der Graphic Novel Shaun Tans bekommen die Flüchtlingskrise und nicht zuletzt auch „der Flüchtling” ein Gesicht. Können auch heute Impulse aus dem Feld der kulturellen Produktion (Pierre Bourdieu) der EU aus ihren
Krisen hinaushelfen? Über welche institutionelle Relaisstationen könnten Wege zu mehr Solidarität und weniger Fragmentierung führen?

3. Das Herzstück Europas? Deutschland und die Krisen(bewältigung)

Angela Merkels Sparpakete aktivierten in Griechenland vergessen geglaubte Vorurteile, ganz und gar in der Tradition des timor teutonorum (Pierre-Frédéric Weber). Aber in Bezug auf Deutschland kann es auch eine anders gerichtete Angst geben: „Deutsche Macht fürchte ich heute weniger als deutsche Untätigkeit“, hieß es in der für große Aufmerksamkeit sorgenden Berliner Rede des polnischen Außenministers Radosław Sikorski im Jahr 2011. Ähnliche Stimmen kommen aber auch aus dem krisenerschütterten Süden Europas. In seinem vieldiskutierten Buch „Deutsches Herz” attestiert der italienische Philosoph Angelo Bolaffi dem Modell Deutschland nicht nur eine Vorbildfunktion für seine europäischen Nachbarn, sondern spricht sich gar für eine Art deutsche Hegemonie in Europa aus. Daniel Dettling empfiehlt letzteres als eine „Pflichtlektüre für alle, die noch an Europa glauben”. Führen etwa alle Wege aus der Krise über Deutschland? Welche Wege dann? Und ist Deutschland überhaupt dazu bereit, eine wohlwollende Hegemonie in Europa auszuüben oder bleibt es für immer ein zögerlicher Semi-Hegemon (William Paterson)? Und schließlich wäre noch zu fragen, was dies für Deutschland, Europa und — zum Beispiel — Deutschlands Partner im Weimarer Dreieck bedeuten mag.

Ablauf

Als Arbeitsformen der Sommerschule sind wissenschaftliche Vorträge, Podiumsdiskussionen und interdisziplinäre Gruppenarbeit vorgesehen. Im Rahmen der Letzteren, in der kurze Beiträge der Teilnehmer erwartet werden, können eigene Forschungsvorhaben — sofern ein Bezug zum Rahmenthema besteht — präsentiert werden. Die Arbeitssprache ist Deutsch, wobei in begründeten Fällen Beiträge und Wortmeldungen in englischer Sprache zugelassen werden. Die rein akademischen Programmpunkte werden durch ein kulturelles Begleitprogramm (Museumsbesuche, Führungen, Exkursion) abgerundet.

Bewerbung und Auswahl

Die Sommerschule richtet sich an Nachwuchswissenschaftler/innen (Masterstudierende und Promovenden) aus allen DAAD-Zentren für Deutschland- und Europastudien sowie von der Ludwig-Maximillians-Universität München und der Universität Wrocław, die sich mit unterschiedlichen Dimensionen der polnisch-deutsch-französischen und gesamteuropäischen Beziehungen beschäftigen. Bitte schicken Sie die Bewerbungsunterlagen in deutscher Sprache (CV, Motivationsschreiben und kurze Projektbeschreibung (1 A4 Seite)) bis zum 25. April 2017 per E-Mail an sommerschule@wbz.uni.wroc.pl und an nathalie.faure@paris-sorbonne.fr. Im Motivationsschreiben soll die Wahl des Schwerpunktthemas kurz begründet werden. Die Auswahl der TeilnehmerInnen wird von einem wissenschaftlichen Beirat der Sommerschule auf Basis der schriftlichen Bewerbungen getroffen.

Kosten

Die Sommerschule wird vom Deutschen Akademischen Austauschdienst aus Mitteln des Auswärtigen Amtes gefördert. Die Aufenthalts- und Programmkosten werden aus diesen Mitteln übernommen. Eine Teilnahmegebühr fällt nicht an.
Die Reisekosten werden nach dem Bundesreisekostengesetz für Fahrten 2. Klasse bzw. Flüge economy class unter Ausnutzung von Spartarifen und gegen Vorlage der Originalbelege im Anschluss an die Sommerschule erstattet.

Organisatoren

Willy Brandt Zentrum für Deutschland und Europastudien der Universität Wroclaw (WBZ), in Zusammenarbeit mit dem dem Centre interdisciplinaire d’études et de recherches sur l’Allemagne (CIERA) und der Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropa Studien der LMU München (GOSE).

Ort

Wrocław, Polen

Zeitraum

25.-30. Juni 2017

Arbeitssprache

Deutsch (Englisch möglich)

Teilnehmerzahl

30 Masterstudierende und Promovenden

Bewerbungsfrist

25. April 2017


Organisationskomitee

Prof. Dr. Ireneusz Paweł Karolewski, Prof. Dr. Jochen Roose, Prof. Dr. Marek Zybura, Dr. habil. Dariusz Wojtaszyn, Dr. Piotr Przybyła

Kontakt

Willy Brandt Zentrum für Deutschland- und Europastudien
der Universität Wrocław
ul. Strażnicza 1-3 PL-50-206 Wrocław
Tel.: 48-71-375 95 01 Fax: 48-71-327 93 61
E-Mail: sommerschule@wbz.uni.wroc.pl
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