Politische Emotionen im 19., 20. und 21. Jahrhundert

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Diese Tagung fragt nach der Rolle, den Bedeutungen und den Konsequenzen politischer Emotionen bei der Bildung von sozialen Gruppen und in der Festlegung von Regeln und Werten durch bestehende Gruppen als Grundlage für ihr gemeinsames Leben im 19., 20. und 21. Jahrhundert. Es geht also darum nachzuvollziehen, wie die Sozialgeschichte des Politischen durch unterschiedliche Aneignungsgrade politischer Emotionen geprägt wird. Während Emotionen schon ein fruchtbares und etabliertes Feld der deutschen Geschichtsforschung der Moderne darstellen, beschäftigen sich die französischen Studien, die von Gefühlen oder von kollektiven Emotionen handeln, v.a. mit der Geschichte des Mittelalters oder der Frühen Neuzeit, selten mit der der Moderne. In den Politikwissenschaften, der Soziologie, Ethnologie oder Anthropologie hat dieses Thema jedoch schon zahlreiche Arbeiten in Frankreich hervorgebracht. Diese Tagung widmet sich daher diesem spezifischen historischen Feld, indem sie durch die verschiedenen Vorträge Brücken zwischen der deutschsprachigen und der französischsprachigen Forschung schlägt und die in diesen beiden Ländern zu beobachtenden Divergenzen in der Behandlung dieses Forschungsgegenstands vergleicht.

In Form unterschiedlicher Praktiken tragen Emotionen dazu bei, Ideen zu verbreiten und zu verankern, sowie soziale Gruppen zu konturieren. Die Emotionen in der Politik, bzw. politische Emotionen insgesamt – da sie sich im breitesten Sinne auch außerhalb der politischen Sphäre zeigen – sind tatsächliche geschichtliche „Akteure“. Durch empirische Studien wollen wir die „Performativität“ der politischen Emotionen analysieren, u.a. durch die Bildung von Gruppen, die manchmal auch als vorgestellte (imagined) oder emotionale Gemeinschaften bezeichnet werden. Auch wenn Mobilisierungsstrategien zur Schaffung von Emotionen (Mittel, Ziele, Rahmung) erwähnt werden, um die rekonstruierten Emotionen zu situieren, wird unser Fokus auf der Rezeption liegen, d.h. auf den Prozess der Wahrnehmung und Aneignung der Emotionen, welche die Grundlage der sozialen Produktion des Politischen bilden. Des Weiteren zielt diese Tagung darauf ab, den länderübergreifenden Austausch für Studien zu fördern, die bisher nur in einem der beiden nationalen oder kulturellen Kontexte verankert sind, indem wir unsere Untersuchungsraster „emotionaler Grammatiken“ bereichern. Zudem wollen wir auch die Übergangsperioden von einem demokratischen zu einem diktatorischen Regime und umgekehrt – hinsichtlich der jeweiligen Veränderung des emotionalen Settings besser verstehen. Die Beiträge dieser Tagung wollen folgende Fragen zu beantworten:

  • Auf welche Weise tragen politische Emotionen dazu bei, die Konturen von Gruppen innerhalb unserer Gesellschaften zu definieren?
  • Inwiefern sind politische Emotionen Ausdruck der sozialen Zugehörigkeiten der Individuen und wie regulieren sie das Verhalten und motivieren das kollektive Handeln?
  • Wie tragen politische Emotionen zur Entwicklung von Solidarität, sozialer Kohäsion und einem Zugehörigkeitsgefühl bei?
  • Inwiefern tragen politische Emotionen zur Bildung der kollektiven, aber auch individuellen Gedächtnisse bei?
  • Kommen politische Emotionen häufiger in diktatorischen Regimen vor? Oder sind es die Ideen, mit denen sie assoziiert werden, die sie sichtbarer machen und ihre ethische Dimension hinterfragen?
  • Inwiefern unterscheidet sich das individuelle Erleben politischer Emotionen von ihrem möglichen kollektiven Erleben?

Die Beiträge ordnen sich in drei großen Forschungsfeldern ein:
Das erste Feld umfasst die Feierlichkeiten oder die politischen Versammlungen, für ihre direkten und indirekten Teilnehmer, bei Live-Übertragungen (Radio, Fernsehen, soziale Medien) oder mithilfe von Aufzeichnungen (gedruckte Medien, Fernsehen, künstlerische Werke), die u.a. auf das Schaffen eines gemeinsamen Erlebens mit der Gruppe der physischen Teilnehmer zielen. Wenn es eine emotionale oder ideelle Verbindung gibt, trägt diese zur Bildung einer aus den Anwesenden und Abwesenden bestehenden Gruppe bei, die manchmal auch als „vorgestellte Gemeinschaft“ (Benedict Anderson) bezeichnet wird. Es bleibt zu untersuchen, wann und mit welchen Mitteln politische Emotionen an der Bildung einer solchen Gemeinschaft beteiligt sind, und auch, im Dienste welcher Gesellschaft diese emotionale, sogar gemeinschaftliche, Vorstellungswelt eingesetzt wird.

Das zweite Forschungsfeld dieser Tagung betrifft die Künste und legt einen besonderen Fokus auf die Musik. Viel mehr als mit der Analyse eines Musikstücks oder eines Kunstwerkes, werden sich die Beiträge mit ihrer Kontextualisierung befassen, mit der Art und Weise, wie die Künste mobilisiert werden, d.h. mit dem Augenblick, in dem die politische Bedeutung eines Kunstwerks festgelegt wird. Gefragt wird, wie die Künste, insbesondere die partizipativen Künste wie der Gesang, auf bewusste und unbewusste Weise zur Formung von Gedächtnissen und Zugehörigkeiten beitragen. In dieser Hinsicht sind Studien, die sich auf Corpora von Ego-Dokumenten stützen, besonders willkommen.

Das dritte und letzte Feld dieser Tagung wird sich mit den Diskursen befassen. Politische Versammlungen, visuelle und auditive Künste und Reden ergänzen sich gegenseitig, da Reden unter anderem dazu dienen, den mobilisierten Emotionen eine Bedeutung zu verleihen – und gleichzeitig auch neue Emotionen zu wecken. Darüber hinaus entsprechen Reden auch einer Kunstform, und zwar der Redekunst. Durch Schweigen, Körperhaltung, Tonfall und Wortwahl können ebenfalls Emotionen hervorgerufen und mobilisiert werden. Hier wird es weniger darum gehen, die Historizität politischer Emotionen zu hinterfragen, indem man die Variationen ihrer Bedeutung im Rahmen der Begriffsgeschichte hervorhebt, sondern darum, ihren Aneignungsgrad bei der oder den Gruppen, an die sich die Rede richtet, aufzuzeigen. Auch hier können Studien, die sich auf Ego-Dokumenten stützen, helfen, zwischen den offiziellen Richtlinien und der Praxis vor Ort zu unterscheiden und gegebenenfalls die Diskrepanzen zwischen Diskurs, Erzählung und Realität hervorzuheben, die sowohl von Aneignungs- als auch von Ablehnungsmodalitäten zeugen. Auch wenn die histoire du sensible im französischen Raum und die Emotionsgeschichte im deutschsprachigen Raum die Hauptdisziplinen dieser Tagung sind, ist sie offen für Beiträge von Historiker*innen, Soziolog*innen, Psycholog*innen, Neurowissenschaftler*Innen, Linguist*innen und Musikwissenschaftler*innen, die in ihrer Forschung mit dieser Problematik konfrontiert sind und die anhand von schriftlichen, akustischen und visuellen Materialien ihre Ansätze und Methoden zur Analyse dieses komplexen Bereichs sowie ihre Werkzeuge zur Untersuchung der erlebten politischen Emotionen darlegen möchten.

Teilnahmebedingungen

Bitte schicken Sie Ihren Vortragsvorschlag bis zum 15. März 2023 an die folgende E-Mail-Adresse:
emotionspolitiques2023@gmail.com. Die Auswahl der Themen wird Anfang April mitgeteilt.

Die Bewerbung muss eine Zusammenfassung des Vortrags (max. 500 Wörter), die institutionellen Kontaktdaten und eine kurze Bibliografie des Autors, bzw. der Autorin enthalten. Da die Tagung in deutscher und französischer Sprache stattfindet, ist eine zumindest passive Beherrschung dieser beiden Sprachen erforderlich.

Reisekosten werden nach Vorlage der Fahrkarten in Höhe von maximal 110€ für Teilnehmende aus Frankreich und 140€ für Teilnehmende aus dem Ausland zurückerstattet. Das Organisationskomitee übernimmt die Kosten für die Mahlzeiten (Mittagspause und Kaffee) für die gesamte Gruppe.

Diese Tagung wird vom Programm „Colloques juniors“ des CIERA unterstützt.

Organisation

Julien Corbel (doctorant contractuel, CEREG – EA 4223, ED 625 MAGIIE, Université Sorbonne
Nouvelle), Charlotte Soria (docteure en histoire, UMR Sirice, Sorbonne Université)

Publié le

Date

-

Délai

Lieu

Paris

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